Anna Lerch - die "Stamm-Mutter" der Lerchs in Norddeutschland. Ihre überlieferte Geschichte erzählt von Gustav Lerch - Großvater der Regine Sager mütterlicherseits, dessen Vorfahren ursprünglich aus Wachstedt im Eichsfeld stammen und im 13.Jahrhunder nach Böhmen ausgewandert sind,wo sie bis 1945 beheimatet waren. Gustav Lerch , geb. 1.8.1891 in Ringelshain, ehemals Böhmen, gest. 1976 in Berchtesgaden, war Studienrat, dann Leiter des Deutschen Rundfunks in Prag bis 1938. Nach dem Krieg war er nur noch als freier Schriftsteller tätig.
Die Stamm-Mutter
Tetschen-Bodenbach/Wachstedt-Eichsfeld
Als ich eines Tages durch den kleinen Ort Höflitz bei Bensen fuhr, erblickte ich den als Familienforscher weit und breit bekannten pensionierten Oberlehrer Neder, der auf meinen Anruf zu mir in den Wagen stieg, und nach einer kurzen herzlichen Begrüßung sagte:“ Ich bringe Ihnen eine interessante Nachricht! Nachkommen der vor 300 Jahren deportierten Anna Lerch haben sich gemeldet!“
„Was Sie nicht sagen !“erwiderte ich.
„Wenn alles so klar und einfach wäre wie dieser familiäre Zusammenhang über drei Jahrhunderte hinweg, wäre die Familienforschung ein Kinderspiel!“ fuhr Oberlehrer Neder fort und fing an zu berichten:
Vor ungefähr einem Vierteljahr war in der in Bremen erscheinenden Zeitschrift für Familienforschung eine Anzeige erschienen, durch die ein Superintendant seine, mündlicher Überlieferung nach aus Böhmen gekommene Stamm-Mutter suchte. Der kleine Ort, wo sie 1651 plötzlich aufgetaucht war, lag an der Unter-Elbe. Nun sind die Lerchs seit dem 13. Jahrhundert in Tetschen-Bodenbach beheimatet. Von der Unter-Elbe aus gesehen also links und rechts der böhmischen Ober-Elbe.
Der alte Oberlehrer Neder wies nach, dass die gesuchte Stamm-Mutter am Soundsovielten des Jahres 1651 in Tetschen auf ein Floß gesetzt und auf dem Wasserwege deportiert worden war. Eine Fahrt, die aktenmäßig kaum festgehalten und dem Schlossarchiv in Tetschen einverleibt worden wäre, wenn die achtzehnjährige Anna Lerch nicht mit der geistlichen und weltlichen Gesetzgebung in Konflikt geraten wäre. Eine Angelegenheit, die wahrscheinlich mit einer Tragödie des jungen Mädchens geendet hätte, wenn die damalige Herrin auf Schloss Tetschen dieses Mädchenschicksal nicht zum Guten gewendet hätte.
Denn Gräfin Margarete von Thun, eine geborene Gräfin von Öttingen-Baldern, war nicht nur eine stattliche, selbstbewusste Dame der Barockzeit, sondern auch eine großartige Mutter, die das Leben gegen das dogmatische Denken und Handeln der geistlichen und weltlichen Gewalten mütterlich in Schutz nahm, so gut es ging.
Als dritte Frau des Grafen Johann Sigmund von Thun betreute und erzog sie nicht nur seine Kinder aus erster und zweiter Ehe wie ihre eigenen Söhne und Töchter, sie fand auch noch Zeit, sich junger Menschen anzunehmen, für deren Schicksal sie sich als Herrin auf Tetschen verantwortlich fühlte.
Auf Schloss Tetschen diente zu ihrer Zeit mit vielen anderen Mädchen aus der Umgebung die achtzehnjährige Anna, eine Tochter des Landwirts Martin Lerch aus dem kleinen Bauerndorfe Hortig. Viele Bauerntöchter wurden ja damals zur Abgeltung der Handdienstleistungen in das Schloss hinaufgeschickt. Nun kam die Anna zum Entsetzen des Schlosspersonals wie ihrer eigenen Eltern in andere Umstände, und zu allem Unglück hielt sich Gräfin Margarete mit ihren Kindern in Dresden auf, wo sie den Winter zu verbringen pflegte, als sich die Sache nicht mehr verheimlichen ließ. Denn wäre sie auf Schloss Tetschen gewesen, wäre wahrscheinlich diese leidige Angelegenheit ohne Aufsehen aus der Welt geschafft worden, indem man einfach die Anna mit einer ansehnlichen Aussteuer mit einem braven Burschen verheiratet hätte, bevor sie niederkam.
Das ging nun nicht mehr, denn als die Gräfin Margarete zurückkam, hatte man bereits das Mädchen auf den Pranger gestellt und öffentlich gestäupt, weil es trotz aller Verhöre den Namen des Vaters nicht preisgeben wollte. Zu alledem hatte sie nach ihrer Niederkunft ein fremdes Laken von einer Wäscheleine heruntergenommen, um das Neugeborene einzuwickeln, und gegen die Kälte zu schützen. Denn heim durfte sie nicht mehr. Ihr Vater, Martin Lerch, hatte sie verstoßen. Der kleine Diebstahl aber genügte, um sie samt den Kinde auf einen Karren zu setzen und mit großem Gejohle nach Tetschen hineinzuziehen, wo sie ein Büttel in Empfang nahm und in den Kerker warf.
Gräfin Margarete suchte das Mädchen alsbald nach ihrer Ankunft im Kerker auf und brachte anscheinend durch ihre mütterliche Güte viel mehr aus ihr heraus als die Untersuchungsrichter mit ihren hochnotpeinlichen Verhören. Alsbald gingen auch die Untersuchungsakten an das Oberste Appelationsgericht in Prag, von welchem die ledige Kindsmutter zur Deportation „begnadigt“ wurde. Skeptischen Juristen, welche ein solches Verfahren bezweifeln, sei gesagt, dass das alles in den Akten steht!
In den Akten wurde allerdings nicht vermerkt, dass die Gräfin Margarete von Thun den Flößern eine bis an den Rand mit Kleidern und Wäsche voll gepfropfte Truhe überbringen ließ, mit dem Auftrag, diese samt der Anna und ihrem Kinde an einem bestimmten Ort in der Altmark an Land zu bringen, wo sie ein Hafenwirt in Empfang nehmen würde.
Seit diesem Tag war die Anna für ihre Familie verschollen.
Wenige Wochen später taucht ihr Söhnlein in der Taufmatrik des kleinen Ortes in der Altmark auf, ohne dass seine uneheliche Geburt vermerkt wäre, obwohl kein Vater angegeben werden konnte.
Mit Genugtuung erfüllt es uns, dass das mütterliche Wirken der Schlossherrin auf Tetschen noch nach 300 Jahren sichtbar wurde, denn ohne ihr Eingreifen wäre die Anna samt dem Kinde wahrscheinlich zugrunde gegangen.
alle Rechte bei Regine Sager
Erzählung „Die Stamm-Mutter“ Tetschen-Bodenbach
aus dem Buch „Seltsames Geschehen“ von Gustav Lerch