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Quis separabit



Der Kastanienbaum 

von Regine  Sager

 

 

Ein Kastanienbaum war die Zierde eines Platzes.  Menschen und Tiere liebten den Baum seines wundervollen Aussehens wegen. Jedes Jahr im Frühjahr ordneten sich seine Blüten zu wahrhaft hübsch aussehenden kerzenartigen Gebilden. 

Abertausende schien der Baum zu haben, mehr als jeder andere Kastanienbaum. Der Baum dachte, als er an die hundert Jahre alt war: "Wenn meine Blütenkerzen doch nur einmal nicht nur wie Kerzen aussehen, sondern auch wie Kerzen brennen würden.  Das wäre mein größter Wunsch. Einmal erstrahlen in einem Lichtermeer. Einmal anders aussehen! Wie schön das wäre! Mein Leben verläuft immer so gewöhnlich, so alltäglich.  Einmal möchte ich es anders haben.“

Er bat die Sonne um Hilfe. 

"Bitte erfülle mir meinen sehnlichsten Wunsch, bitte schicke mir gebündelte Sonnenstrahlen, die meine Blütenkerzen anzünden!“ 

Er bettelte Frühjahr um Frühjahr, immer flehentlicher. Zehn Jahre lang. Als der Kastanienbaum allzu flehentlich darum bat, schickte die Sonne ihm das Gewünschte.  Eine Blütenkerze nach der anderen wurde durch gebündelte Sonnenstrahlen angezündet.  Der Baum erstrahlte in einem Lichtermeer. Es sah märchenhaft aus.  Doch die Kerzen brannten in Windeseile herunter.  Das entstandene Feuer erfaßte die Blätter, die Zweige, die Äste, den Stamm.  Der Baum loderte in Windeseile wie eine Fackel.  Als Menschen darauf aufmerksam wurden, war es bereits zu spät.  Sie konnten nichts mehr für den Baum tun. Verkohlte Äste und Zweige lagen verstreut auf dem Platz. Der Stamm war fast ganz abgebrannt, in dem verbliebenen Stumpf schwelte noch der Rest des Feuers. Hundert Jahre gewöhnlicher Lebensstand, zehn Jahre der eitle Wunsch nach Außergewöhnlichem, ein Tag der Wunscherfüllung, eine Stunde der Ausführung. Der Baum sah jetzt tatsächlich anders aus, nicht wie gewöhnlich.  Er hatte es so gewollt, nicht alles in eitlem Verlangen überdacht.  Der nächste Tag brach an. Menschen und Tiere gingen ihrem alltäglichen Leben nach.  Der Baumstumpf erinnerte an etwas, das einst war. Im darauf folgenden Frühjahr zeigten sich neue Triebe.

 

 

alle Rechte: Quis separabit Verlag Regine Sager

 





Das Perlhuhn

 

„Scher dich weg, Hängebauchschwein “,  gackerte erbost das Perlhuhn, "du bist genauso schmutzig wie alle anderen Hängebauchschweine.  Außerdem sagt man, ihr tötet andere Tiere aus Futterneid, wenn ihr in Freiheit lebt.“ 

 „Wo hast du denn diesen Unsinn her?“ fragte das Hängebauchschwein verärgert.

"Das weiß doch jeder.  Meine Mutter sagt, in Asien wo ihr herkommt, ist das bekannt.“

"War deine Mutter jemals in Asien?"

„Nein, aber sie weiß es von ihrer Mutter und die wiederum von ihrer Mutter."

„War einer deiner Vorfahren jemals in Asien?

„Nein, wir sind alle hier im Zoo geboren. 

„Aha, dann konnte keiner von euch sich je vergewissern, ob das, was ihr einfach behauptet, richtig ist."

„Ein Körnchen Wahrheit wird schon daran sein.“

„Ist es wahr, dass alle Perlhühner nicht sehr viel Hirn im Kopf haben und auch außerhalb des Zoos anderem Federvieh missgünstig die Körner wegpicken?" erkundigte sich das Hängebauchschwein überlaut, so dass andere Tiere in Hörweite die Ohren spitzten.

"So eine Frechheit."  Entrüstet lief das Perlhuhn davon.

„Hast du das gehört?" meckerte die Ziege ihrer Freundin zu.  „Ich hatte mir so etwas immer schon von den Perlhühnern gedacht.

Abends erzählten die Ziegen ihren Männern von dem Gehörten.  Am nächsten Tag erzählten sie es dann den Schafen. Die erzählten es den Gänsen.  Es ging reihum.  Und so gelten seit dieser Zeit im Tierreich alle Perlhühner als dumm und missgünstig.

 

Regine Sager

Alle Rechte: Quis separabit Verlag Regine Sager




















                                                                                                          Landschaft / acrylic auf Leinwand 50x60


Die Eiche

 

von  Regine Sager

 

 
Es gibt einen uralten Wald, der so alt ist, dass er von Zeiten erzählen könnte, in denen noch keine Menschenseele einen Fuß in sein Gebiet gesetzt hatte.  Damals lebten die Bäume friedlich zusammen.  Ob Eichen, Birken, Kastanien, Linden, Tannen, Fichten oder Buchen, alle gingen freundlich miteinander um.  Das Geraune der Bäume war stets melodisch und heiter.  Dann eines Tages erschienen die ersten Menschen.  Ihnen gefiel der Wald.  Sie ließen sich an seinem Rand nieder.

"Wieviele verschiedene Baumarten es doch gibt!" staunten die Menschen immer wieder bei ihren Streifzügen durch den Wald.

"Es wäre doch eine gute Idee, ein Waldfest zu Ehren der schönsten Baumart zu feiern", schlug einer der Menschen eines Tages vor.

"Ja, das ist wirklich eine ausgezeichnete Idee", stimmten die anderen begeistert zu. "Jetzt ist Sommer, eine bessere Zeit gibt es gar nicht, um ein Waldfest zu feiern.  Kommt, lasst uns die Baumart aussuchen, die uns am besten gefällt!"

Doch das erwies sich als gar nicht so einfach. Einige der Menschen fanden die Eichen am schönsten, anderen wiederum gefielen die Kastanien am besten, die einen schwärmten für die Tannen, die anderen für die Rotbuchen. Da die Menschen sich aber nun einmal entscheiden wollten wegen des großen Waldfestes, das so bald wie möglich gefeiert werden sollte, einigten sie sich letztendlich auf die Birken. Den Menschen gefielen die biegsamen schlanken Stämme mit den wunderschönen weißen Maserungen und den feinen Blätterkronen.

Die Birken freuten sich ungemein über ihre Wahl zur schönsten Baumart,  andere Bäume nicht. Manche Linden dachten neiderfüllt. 

"So schön sehen die Birken eigentlich gar nicht aus." Viele Eichen murrten: "Wir begreifen das nicht, wir anderen Bäume sehen doch ebenso gut aus, wenn nicht noch besser."

In das harmonische Geraune von einst mischten sich mehr und mehr disharmonische Laute.  Die Kastanien sprachen nicht mehr mit den Birken, sie fanden diese zu hochmütig in der letzten Zeit.  Die Birken waren voller Zorn auf die Buchen, weil diese die Urteilsfähigkeit der Menschen anzweifelten.  Tannen und Fichten verfeindeten sich, weil die Fichten glaubten, sie sähen sehr viel besser aus als die Tannen.

Die Menschen, die diese Unstimmigkeiten bei den Bäumen verursacht hatten, dachten kaum noch an ihre Baumwahl.  Sie hatten ein rauschendes Waldfest zu Ehren der Birken gefeiert, zwei Tage lang, mit Musik und Tanz, Essen und Trinken.  An einigen der Birken, die von den Menschen mit Blumengirlanden herrlich geschmückt worden waren, hingen noch verstreut einzelne vertrocknete Blumen.  Letzte Erinnerungen an fröhliche Stunden. Nun war der Alltag wieder eingekehrt.  Im nächsten Jahr, so war von den Menschen beschlossen worden, und darauf freuten sie sich jetzt schon, wurde erneut ein Fest zu Ehren der schönsten Baumart stattfinden.  Doch dann würden sie eine andere Baumart als in diesem Jahr zu ihrer Favoritin wählen.  Die Menschen liebten nämlich die Abwechslung, und im Grunde ging es ihnen bei der Baumwahl nur um den willkommenen Anlass für ein Fest.  Aber das wussten die Bäume nicht.

Eine starke Eiche, die direkt neben einer schlanken Birke stand, dachte unentwegt voller Neid. "Wäre ich doch nur so schlank wie die Birke!  Dann würde ich auch zu den Schönsten hier im Wald zählen, vielleicht auch einmal mit Blumengirlanden bekränzt werden. Ich möchte unbedingt wie sie sein. Ich muss abnehmen, das ist der einzige Weg, um schlank zu werden. "

Die Eiche befahl ihren Wurzeln Tag für Tag, nur noch ganz wenig Nahrung aus dem Erdreich zu ziehen.  Dadurch verkümmerten allmählich die Äste und Zweige, die Blätter wurden vor der Zeit gelb und fielen ab, die Rinde des Stamms wurde rissig.

Die Wurzeln bettelten inständig. "Lass uns mehr Nahrung aufnehmen!  Bitte!  Es ist genug da.  Lass uns nicht hungern!"

Aber die Eiche ging nicht darauf ein.  Oft fühlte sie sich schlapp und matt.  Dann sah sie ihr Vorbild, die schlanke Birke, an und setzte ihre Hungerkur fort.  Im nächsten Frühjahr war die Eiche zu geschwächt, um neue Triebe wachsen lassen zu können.  Ihre Äste und Zweige ragten wie Gerippe in den Himmel, die Rinde des Stamms löste sich und fiel wie Schuppen ab.  Ungeziefer befiel den geschwächten Baum und fraß sich in ihn hinein.

"Ich sehe nicht besonders gut aus", dachte die Eiche höchst unzufrieden, "aber es ist nur eine Übergangszeit", beruhigte sie sich sofort, „und die werde ich überstehen.  Die Birke sieht doch auch blühend aus in ihrer Schlankheit. Bis zum Sommer werden sich meine Äste und Zweige längst daran gewöhnt haben, auch mit wenig Nahrung gut auszukommen.  Sie werden bis dahin wieder gewachsen sein und volles Laub tragen, und mein Stamm wird wieder gesunde Rinde angelegt haben."

Die Eiche stellte sich jeden Tag vor, wie sie, schlank und rank, mit Blumengirlanden bekränzt, zu den Schönsten des Waldes zählen würde.  "Es lohnt sich, sagte sie zu ihren Wurzeln, "ihr werdet mit Stolz erleben, wie die Menschen mich beachten und mit Liebe schmücken werden.“

Das nächste Baumfest näherte sich.  Die Menschen gingen durch den Wald, um die schönste Baumart auszusuchen.  Sie entschieden sich diesmal für die starken Eichen.

"Was soll das?" fuhr es der Eiche durch den Kopf, "ich dachte, sie bevorzugen schlanke, biegsame Bäume und jetzt?

"He", sagte die Birke neben ihr, "dieses Jahr seid ihr Eichen dran, aber so wie die aussiehst kann man dich wahrlich nicht als schön bezeichnen, nur noch als mickrig und unansehnlich.  Wo ist dein herrlicher starker Eichenstamm geblieben, dein volles Laub?  Mit Blumengirlanden wirst du bestimmt nicht bekränzt werden.“

Die Eiche weinte: "Man kann sich nicht auf das Urteil der Menschen verlassen.  Ich dachte, wenn sie sich einmal entscheiden, dann für immer." Sie bat ihre Wurzeln, wieder mehr an Nahrung aus dem Erdreich zu ziehen.  Diese versuchten es, aber es gelang ihnen nicht.  Zu verkümmert waren sie in der Zwischenzeit geworden, sie hatten keine Kraft mehr, Nahrung aufzunehmen.  Vor dem Waldfest entwurzelte ein kräftiger Windstoß die Eiche.



aus "Märchenhafte Erzählungen" Regine Sager

alle Rechte : Bild und Text Quis separabit Verlag Moers

Bild: Landschaft/ Regine Sager

Mischtechnik auf Leinwand  30x40










 

 

 

 

 

 







 

 

 

 



























         

 
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